* 12 *

Terry Tarsal, Schuhmacher und wider Willen Halter einer lila Pythonschlange, führte gern ein ruhiges Leben. Die meiste Zeit war ihm dies auch vergönnt, und wenn seine Ruhe einmal gestört wurde, so hatte dies für gewöhnlich mit lila Pythonschuhen zu tun.
Terry war ein kleiner, drahtiger Mann mit großen, geschickten Händen, die nach jahrelanger Arbeit mit Leder rau und schwielig waren. Er hatte in der Räubergasse gleich neben der Zaubererallee einen langen, schmalen Laden, in dem es nach Staub, Leder, Schusterdraht und, an diesem besonderen Tag, nach Leinöl roch. Terry liebte seine Arbeit. Was ihm dagegen gar nicht gefiel, war, dass er im Hof hinter dem Laden eine Pythonschlange halten musste. Aber Marcia Overstrand gehörte zu seinen besten Kundinnen, und im Laufe der zehn Jahre, die sie nun schon Außergewöhnliche Zauberin war, hatte er die Schlange tapfer versorgt und regelmäßig ihre abgestreifte Haut eingesammelt, damit er Vorrat hatte, wenn Marcia ihr nächstes Paar Schuhe bestellte.
An diesem Morgen hatte Terry soeben die Schlange gefüttert, was ihn immer sehr mitnahm, und erholte sich gerade bei einem Becher heißem Apfelmost, als er durch das Milchglas seiner Schaufensterscheibe Marcia Overstrands lila Robe vorbeihuschen sah. Im nächsten Augenblick sprang die Ladentür – die schreckliche Angst vor Marcia hatte – auf.
Terry Tersal war aus härterem Holz geschnitzt. »Guten Morgen, Miss Overstrand«, grüßte er, machte sich aber nicht die Mühe aufzustehen, und trank stattdessen noch einen Schluck Apfelmost. »Ihre neuen sind noch nicht fertig. Ich muss warten, bis die verflixte Python sich häutet.«
»Deswegen bin ich nicht hier«, erwiderte Marcia und humpelte herein. »Es handelt sich um einen Notfall.« Sie bückte sich, zog ihren Schuh aus und ließ ihn zusammen mit dem losen Absatz auf den Ladentisch fallen. »Abgebrochen. Einfach so. Ohne Vorwarnung. Ich hätte mir das Bein brechen können.«
Terry ergriff den anstößigen Schuh und hielt ihn mit gestrecktem Arm von sich weg. »Sie sind da in etwas hineingetreten«, sagte er vorwurfsvoll.
»Tatsächlich? Ich war immer der Meinung, dass Schuhe dafür da sind«, entgegnete sie. »Dass man auf etwas tritt.«
»Auf ja. Aber nicht in. Nun, das lässt sich wohl wegbürsten. Wollen Sie so lange warten oder später wiederkommen?«
»Besten Dank, Mr. Tarsal, aber ich habe nicht die Absicht, den weiten Weg zum Zaubererturm hüpfend zurückzulegen. Ich werde warten.«
»Ganz wie Sie wünschen. Wenn ich Ihnen ein Paar Galoschen in Einheitsgröße anbieten dürfte?«
»Ich trage keine Galoschen«, lehnte Marcia kühl ab. »Und Galoschen in Einheitsgröße schon gar nicht, haben Sie vielen Dank.«
Terry Tarsal nahm die Schuhe und verschwand im hinteren Teil des Ladens. Marcia setzte sich auf die unbequeme Holzbank neben der Theke – Terry sah es nicht gern, wenn seine Kunden hier verweilten – und sah sich um.
Marcia genoss ihre Besuche bei Terry Tarsal. Sie saß gerne in dem ruhigen alten Laden in der dunklen Gasse, wo niemand sie vermutete. Und wenn zufällig jemand hereinschneite, amüsierte sie sich über sein erschrockenes Gesicht, wenn er die Außergewöhnliche Zauberin erblickte, die auf einer wackligen Holzbank saß und auf ihre Schuhe wartete wie jeder andere Bewohner der Burg.
Und so saß Marcia, während Terry Tarsal den Drachenmist abkratzte, einen neuen Absatz anschlug und einen Fetzen Pythonhaut suchte, um ihn damit zu überziehen, zufrieden da und besah sich die Schuhpaare, die auf ihre Abholung warteten. Es war ein bunt gemischter Haufen. Die meisten waren ganz gewöhnliche Stiefel aus braunem oder schwarzem Leder mit festen Schnürsenkeln und dicken Ledersohlen. Daneben gab es verschiedene rote und grüne Holzschuhe, wie sie viele Arbeiter in den Werkstätten und kleinen Fabriken in den Anwanden trugen, um ihre Füße zu schützen, außerdem einige kleine, mit Bändern geschmückte rosa Tanzschuhe, zwei Paar Fischerstiefel aus geöltem Leder – sie waren die Quelle des beißenden Leinölgeruchs, der den Laden erfüllte – und schließlich ein Paar höchst merkwürdige Schuhe mit den längsten und spitzesten Spitzen, die Marcia jemals gesehen hatte.
Neugierig stand sie auf und ging hinüber, um sich die ungewöhnlichen Schuhe genauer anzusehen. Sie konnte der Versuchung nicht widerstehen, sie in die Hand zu nehmen. Sie waren schön, aus weichem roten Leder und mit tief ins Leder getriebenen vergoldeten Schnörkeln verziert. Obwohl die Schuhe für einen Fuß normaler Größe gefertigt waren, war die schmal zulaufende Spitze mindestens so lang wie zwei Füße und am vordersten Teil mit zwei langen schwarzen Bändern versehen, die am Schuh festgenäht waren. Marcia staunte über das geringe Gewicht der Schuhe und die erstklassige Qualität des Leders, das Terry Tarsal verwendet hatte. Sie strich mit den Fingern über die Linien der vergoldeten Muster. Je länger sie die eleganten Schnörkel auf jeder Schuhspitze betrachtete, desto mehr war sie davon überzeugt, dass sie den Buchstaben M darstellten.
Die weichen roten Schuhe noch in der Hand, kehrte Marcia zu der Bank zurück, von einer Erregung ergriffen, die sie zuletzt als kleines Mädchen am Abend vor ihrem Geburtstag empfunden hatte. Tatsächlich hatte sie in einer Woche Geburtstag, und in ihr regte sich die Vermutung, dass Septimus diesmal ernsthaft über ihr Geschenk nachgedacht hatte – anstatt ihr wie sonst einen hastig im Palastgarten gepflückten Blumenstrauß zu überreichen. Sie erinnerte sich, wie er ihr einmal die Schuhe beschrieben hatte, die er in jener Zeit, in die ihn dieser grässliche Alchimist Marcellus Pye entführt hatte, tragen musste. Damals hatte sie dazu bemerkt, dass diese Schuhe dort wohl das einzig Passable gewesen seien. Und jetzt sagte sie sich, dass solche Schuhe genau die Art von ausgefallenem Geschenk waren, auf das Septimus kommen würde, wenn er sich ernsthaft darüber Gedanken machte.
Marcia bekam ein schlechtes Gewissen, weil sie die Schuhe vor ihrem Geburtstag gesehen hatte, und stellte sie eilends ins Regal zurück. Im selben Moment kehrte Terry Tarsal zurück. »Die merkwürdigsten Schuhe, die ich jemals gemacht habe«, sagte er.
Marcia fuhr herum, als sei sie bei etwas Verbotenem ertappt worden. »Wer hat sie bestellt?«, konnte sie sich nicht verkneifen zu fragen.
»Ihr Lehrling, wenn ich mich recht entsinne«, antwortete Terry Tarsal.
»Das habe ich mir gedacht«, sagte Marcia und lächelte. Wie lieb von Septimus. Manchmal konnte er so aufmerksam sein. Sie musste versuchen, etwas netter zu ihm zu sein. Wenn er sich anstrengte und fleißig arbeitete, wollte sie Althers Rat beherzigen, der zu ihr gesagt hatte, dass Septimus in ein Alter komme, in dem er mehr Freiheit brauche, und sich bemühen, nicht mehr so viel Theater zu machen, wenn er mal ausging und ihr nicht genau sagte, wohin.
Terry Tarsais Stimme unterbrach sie beim Fassen guter Vorsätze. »Bezahlen Sie die Schuhe?«, fragte er.
»Auf keinen Fall! Und er darf auch nicht erfahren, dass ich sie gesehen habe. Ist das klar?«
Terry Tarsal zuckte mit den Schultern. »Ich habe keine Ahnung, was das mit den Schuhen soll. Genau dasselbe hat auch Ihr Lehrling zu mir gesagt – Marcia darf sie nicht sehen. Das war ihm sehr wichtig.«
»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Marcia beifällig.
»Jedenfalls soll ich sie morgen ausliefern. Warum er nicht selbst kommt und sie abholt, ist mir schleierhaft. Bis zur Schlangenhelling ist es doch nur ein Katzensprung, nicht wahr?«
»Schlangenhelling? Was hat denn die Schlangenhelling damit zu tun?«, fragte Marcia.
»Na, dort wohnt er doch«, erklärte Terry geduldig, als stellte sich Marcia absichtlich dumm. »Aber jetzt zu Ihrem Absatz ...«
»Wer wohnt dort?«
»Der komische Kauz, der mit Ihrem Lehrling hier war – der Mann, für den die Schuhe sind. Hören Sie, der Leim an dem Absatz muss mindestens eine Stunde trocknen und ...«
»Der Mann, für den die Schuhe sind?«
»Sind Sie sicher, dass Sie ...«
»Mr. Tarsal, antworten Sie mir. Für wen genau sind diese Schuhe?«
»Das darf ich Ihnen nicht sagen. Das ist vertraulich.«
»Papperlapapp!«, explodierte Marcia. »Es geht nur um ein Paar Schuhe, um Himmels willen. Das kann doch nicht streng geheim sein!«
Terry Tarsal wollte nicht nachgeben. »Ich bin meiner Kundschaft gegenüber zu Vertraulichkeit verpflichtet«, erwiderte er.
»Mr. Tarsal, wenn Sie mir nicht sagen, für wen diese Schuhe sind, sehe ich mich gezwungen ... sehe ich mich gezwungen ...« Sie überlegte angestrengt, worüber sich Terry ganz besonders ärgern würde, »... sehe ich mich gezwungen, alle diese Schuhe, die auf ihre Abholung warten, eine halbe Nummer kleiner zu machen.«
»Das würden Sie nicht wagen ...«
»Und ob ich das wagen würde. Also, für wen sind die Schuhe?«
»Marcellus Pye.«
»Marcellus Pye?«, schrie Marcia so laut, dass die Tür vor Schreck klapperte und eine Dose mit kleinen grünen Knöpfen vom Ladentisch hüpfte und ihren Inhalt auf dem Fußboden verstreute.
»Sehen Sie nur, was Sie angerichtet haben«, rief Terry, begab sich auf alle viere und las die Knöpfe auf. »Die werde ich nie alle finden. Sie sind überall hingekullert.«
Fassungslos sah Marcia zu, wie Terry hinter den Knöpfen her krabbelte, als wäre er von einem anderen Stern. Sie konnte sich keinen Reim auf die Sache machen. Es waren nur drei Worte, die ihr im Kopf herumgingen, aber sie schienen alle ihre Gedanken in Beschlag zu nehmen. Diese Worte waren »Septimus«, »Marcellus« und »Pye«.
»Wir wär’s, wenn Sie mir helfen würden, anstatt Löcher in die Luft zu starren wie ein Kamel, das unter Verstopfung leidet«, riss Terry Tarsal sie unsanft aus ihren Gedanken.
Es kam nicht jeden Tag vor, dass Marcia mit einem unter Verstopfung leidenden Kamel verglichen wurde, aber es verfehlte nicht seine Wirkung. Sie kam wieder zu sich und half Terry bei der Knopfsuche. Aber noch immer überschlugen sich die Gedanken in ihrem Kopf. »Sagten Sie Marcellus Pye fragte sie.
»Ja«, antwortete Terry gereizt und kratzte mit dem Fingernagel einen kleinen grünen Gegenstand zwischen den Dielen hervor, nur um festzustellen, dass es ein Fruchtbonbon war. »Marcellus Pye. Ich weiß noch, dass ich ihn mit ›i‹ geschrieben habe und Ihr Lehrling mich verbessert hat.«
»Sind Sie sich absolut sicher?«, fragte Marcia. Alle möglichen und unmöglichen Erklärungen schössen ihr durch den Kopf. Keine ergab einen Sinn. Und alle kreisten um Septimus.
Terry Tarsal richtete stöhnend den Oberkörper auf und rieb sich den Rücken. »Ja, hab ich doch gesagt. Hören Sie jetzt damit auf, Madam Overstrand. Ich muss mich konzentrieren. Das sind meine besten Jadeknöpfe.«
»Ihre besten Jadeknöpfe?«
»Ja. Solche bekomme ich nie wieder. Aber das ist mal wieder typisch ...«
Marcia rappelte sich auf und klopfte ihre Robe aus, die mit Staub bedeckt war – Terry hielt vom Schustern offenbar mehr als vom Putzen. Sie schnippte mit den Fingern und murmelte einen Rückholzauber. Aus verborgenen Ritzen und Spalten zwischen Terry Tarais Fußbodendielen flogen die Knöpfe herbei, und mit offenem Mund sah Terry zu, wie sich ein dünner grüner Strom in die Knopfdose ergoss.
Terry stand auf, einen Ausdruck der Erleichterung und Verwunderung im Gesicht. Er hatte noch nie mit eigenen Augen einen Zauberer bei der Arbeit gesehen, und dass Marcia ihre Kunst für etwas so Gewöhnliches wie die Suche nach seinen Knöpfen zur Verfügung stellte, rührte ihn. »Vielen Dank«, sagte er leise. »Das ist... also, das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen.«
»Das Mindeste, was ich tun konnte«, erwiderte Marcia. »Dürfte ich jetzt Ihr Auftragsbuch sehen?«
»Mein Auftragsbuch?«
»Ja, Mr. Tarsal. Bitte.«
Verwirrt schüttelte Terry den Kopf und entfernte sich. Gleich darauf kam er mit einem schweren, in Leder gebundenen Buch zurück und ließ es auf den Ladentisch plumpsen.
»Ich würde gern die Bestellung für diese Schuhe sehen«, sagte Marcia. »Bitte.«
Terry leckte sich den Finger und blätterte bis zu dem fraglichen Tag. »Hier haben wir sie«, sagte er und deutete auf einen Eintrag von vor drei Wochen.
Marcia zückte ihre Brille und las Terry Tarsais kritzelige Handschrift. Der Name Marcellus Pye sprang ihr förmlich ins Gesicht. »Ich kann es nicht fassen«, murmelte sie.
»Ja. Das ist er.«
»Ist er sehr alt?«, fragte Marcia, die aus der Sache einfach nicht schlau wurde.
»Nein, er ist jung ... so um die dreißig. Sah ziemlich gut aus, bis auf diesen komischen Haarschnitt. Jetzt entsinne ich mich wieder. Ich musste von seinen Füßen Maß nehmen, weil er seine Schuhgröße nicht wusste. Er nannte mir ständig eine alte Größe, die bestimmt seit mindestens hundert Jahren nicht mehr in Gebrauch ist. Nicht einmal mein alter Herr hätte sich daran noch erinnert. Außerdem hatte er einen merkwürdigen Akzent. Aber die meiste Zeit hat Ihr Lehrling geredet, wenn ich mich recht entsinne.«
»Tatsächlich?«, sagte Marcia und sank plötzlich auf die Bank. »Also, ich weiß nicht...«
»Alles in Ordnung, Madam Overstrand?«, fragte Terry. »Sie sehen etwas blass aus. Ich hole Ihnen ein Glas Wasser.«
Nichts war in Ordnung. Marcia fühlte sich seltsam losgelöst, als sei die Welt plötzlich nicht mehr so, wie sie geglaubt hatte. Terry brachte das Glas Wasser.
»Danke, Terry.« Die lila bestrumpften Füße auf dem staubigen Boden, saß sie da und nippte an dem Glas. Der eigentliche Grund für ihre Bestürzung war, wie ihr jetzt klar wurde, weniger, dass ein junger Marcellus Pye in ihrer Zeit lebte, was schon seltsam genug war, als vielmehr die Erkenntnis, dass Septimus – ihr getreuer Septimus – sie hintergangen hatte.
Unter Terry Tarsais besorgten Blicken trank sie das restliche Wasser und fasste sich wieder etwas. »Terry«, sagte sie.
»Ja, Eure Außergewöhnlichkeit?«
»Könnten Sie mir, solange der Absatz trocknet, ein paar Jadeknöpfe an meine Schuhe nähen?«